Vor einigen Jahren hat mir eine Freundin, die weiß, dass ich immer an Einzelschicksalen im Holocaust interessiert bin, einen kleinen bibliophilen Schatz geschenkt. Bei Lienekes Heften aus dem Verlagshaus Jacoby & Stuart in Berlin handelt es sich um eine kleine Bücherbox, die neun kleine handgebundene Hefte enthält, eben Lienekes Hefte.
Während der Besatzungszeit in den Niederlanden musste die Familie van der Hoeden, zu der auch die 1933 geborene Lieneke gehörte, von 1942 an im Versteck leben, um der Deportation in die Konzentrations- und Vernichtungslager zu entgehen. Die einzelnen Familienmitglieder tauchten bei verschiedenen Familien unter. Lieneke musste mehrmals ihr Versteck wechseln. Um nicht den Kontakt mit ihrer Familie zu verlieren, gelang es ihrem Vater, Lieneke von Zeit zu Zeit ein Heft mit „Plaudereien“, Briefen oder Gedichten zu schicken, die immer liebevoll und reich illustriert waren. Aus Angst vor Entdeckung durfte Lieneke die Hefte immer nur kurz behalten. Da ihr Gastvater es nicht über das Herz brachte, die Hefte zu vernichten, sondern sie in einer Dose im Garten vergrub, konnte sie Lieneke nach dem Ende des Krieges wieder in Empfang nehmen. Nach ihrer Emigration nach Israel übergab sie sie dort einem Archiv und Museum.
Die Hefte, die Lieneke von ihrem Vater bekam, enthalten keine weltbewegenden Gedanken oder intensive und analytische Beschreibungen der Zeitumstände oder des Lebens im Versteck. Es sind kleine, einfache Briefe für ein junges Mädchen. Aber sie berühren und gehen ans Herz. Man sieht ihnen an, mit wie viel Liebe der Vater beim Schreiben und Zeichnen an seine Tochter gedacht hat und wie viel Mühe er sich gegeben hat, Lieneke eine Freude zu machen. Und schon allein deshalb ist die kleine Box mit den Heften ein Geschenk für den heutigen Leser. Zwischen dem Lesen vieler Täter-Dokumente und wissenschaftlicher Abhandlungen über den Holocaust tut es gut zu sehen, dass auch in diesen Jahren Menschen versucht haben, ihren Lieben eine Freude zu machen. Trotz ihrer alltäglichen Sorgen und den Bedrohungen der Zeit, brachten sie farbige und fröhliche Gedanken zu Papier. Es ist immer wieder schön, dass auch solche, scheinbar banalen kleinen Bücher, publiziert werden können, um der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust einen unerwarteten Aspekt hinzuzufügen.
Jacob van der Hoeden: Lienekes Hefte, Berlin 2011.